Besuch in der Heimat der böhmischen Exulanten

Im Jahr 2008 hauchten Künstler aus Rixdorf, vor allem Marion Wegner aus dem Café Linus und Christoph Böhm vom Bauchhund Salonlabor, der Legende Leben ein, wonach das Zusammenleben der Halbstarken aus Deutsch-Rixdorf und den protestantischen Glaubensflüchtlingen in Böhmisch-Rixdorf vor fast 300 Jahren nicht immer konfliktfrei war. Der Sage nach entschieden die Dorfältesten, dass sich die Heranwachsenden nach Feierabend („Popráci“) treffen sollten, um ihre Kräfte im Strohballen-Rollen rund um den Richardplatz zu messen. Das rasanteste Dorffest Berlins gefiel den Gästen aus unserer Partnerstadt Usti nad Orlici so gut, dass sie ab 2009 im ostböhmischen Černovír die tschechische Variante „Rolování Slámy“ veranstalteten. Dazu reiste auch immer ein Team aus Rixdorf an, um die 250 Kilo schweren Strohballen bergan zu wuchten. Während die Rixdorfer dabei nicht immer den letzten Platz belegten, wurden die Gewinner aus Černovír zum nächsten Popráci auf dem Richardplatz eingeladen, wobei sie dort nicht immer die Sieger waren.

Durch die Corona-Pandemie fiel das Strohballen-Rollen in Rixdorf aus und danach mangelte es den Organisationen an der Kraft, dieses Event weiter auszurichten. Zwar gab es viele vollmundige Ankündigungen, aber mittlerweile ist das Popráci in Rixdorf selbst schon Geschichte.

Auch in diesem Jahr hatte sich wieder ein Team aus Rixdorf zusammengefunden, um am Rolování Slámy teilzunehmen. Doch leider war die Dorfstraße aufgerissen und die Arbeiten an der Abwasserkanalisation nicht rechtzeitig fertig, ein Phänomen, das bei uns ja nicht vollkommen unbekannt ist. Zwar konnte der Strohballen-Wettbewerb deshalb nicht stattfinden, da aber die Koffer schon einmal gepackt waren, reiste eine zehnköpfige Delegation vom 23. – 26. August nach Tschechien, um unsere Freunde dort zu besuchen. Diese hatten ein umfangreiches Besuchsprogramm zusammen­gestellt.

Gleich nach der Ankunft am Freitag in der Pension Rubinek in Písečná gab es bei einem zünftigen Abendessen im Dorfkrug ein Wiedersehen mit Matouš Pořický, dem „Chef“ vom Rolování Slámy. Dabei ist besonders Veronika Patočková für das unermüdliche Dolmetschen zu danken.

Reisegruppe Fröhlich

Am Samstag wurden die „Rixdorfer Freunde“ in Horní Čermná besucht. Das ist der Ort, aus dem der überwiegende Teil der Rixdorfer Exulanten stammt. Die böhmische Brüdergemeine hatte schon lange vor der politischen Wende Kontakte zu der evangelischen Kirchengemeinde in Horní Čermná geknüpft, was 1989 zu einer Städtepartnerschaft führte. Da das Dorf für Neukölln dann doch etwas zu piefig war, wurde die nächste größere Stadt Ústí nad Orlicí Partnergemeinde. Bemerkenswerterweise wurde der 1. Teil der Partnerurkunde noch mit der sozialistischen ČSSR geschlossen, was damals sehr ungewöhnlich war, und der 2. Teil dann mit der Tschechischen Republik.

Zunächst aber ging es nach Kunvald. Hier ließen sich nach 1453 Anhänger der verfolgten Glaubensgemeinschaft der Böhmischen Brüder nieder. Im Haus der Versammlung („Dum Na Sboru“), das vermutlich auf deren Grabstätte entstand, wurde eine Dauer-Ausstellung besichtigt und das 1910 errichtete Denkmal für Jan-Amos-Comenius. Für einen Besuch der „Brüder-Linde“, an der sich die Exulanten heimlich in der Nacht zur Flucht verabredeten, war leider keine Zeit mehr.

Reisegruppe Fröhlich mit Rixdorfer Freunde vor dem Comenius-Denkmal in Kunvald.

Nach Stärkung in einem Restaurant ging es zu einer kurzen Wanderung in das Adlergebirge zur Wilden Adler (Divoká Orlice), die hier die Grenze zu Polen bildet. Eine der ältesten Steinbrücken in Tschechien, die von italienischen Baumeistern errichtet wurde, verbindet die beiden Ufer der Orlici. Auch gibt es hier eine hundertjährige hölzerne „Schmugglerbrücke“ zwischen Böhmen und Schlesien. In Horní Čermná gab es ein Jazz-Konzert zum Abschied des beliebten Pfarrers Jakub Keller, der nach 26 Jahren eine neue Pfarrstelle antritt. Auch feierte die Feuerwehr ihr 145-jähriges Bestehen.

Sonntagmorgen traf sich die „Reisegruppe Fröhlich“ in dem schicken, neu eröffneten Café Karvána Karolina in der ehemaligen Post von Ústí nad Orlicí. Das Gebäude wurde von der Firma AGROSTAV erworben und aufwändig umgebaut. Dabei befinden sich die Toiletten des Cafés im ehemaligen Tresorraum, was eine besondere Herausforderung für die Bauarbeiter war. Im nahegelegenem Pardubice wurden die „Automaticke Mlyny“ besichtigt. Wo hundert Jahre Mehl gemahlen wurde, entstand nach 2015 die regionale Galerie Gočár, die städtische Galerie für zeitgenössische Kunst Gampa, das Bildungslabor Sféra (Sphäre) sowie das Informationszentrum der Stadt Pardubice. Hier wurden auf eindrucksvoller Weise historische Gebäudeteile mit moderner Architektur verbunden, die immer wieder Bezug auf die ehemalige Nutzung als Mühle und ihren gigantischen Getreide-speichern nimmt.

Der Weg zurück führte über das kleine Stadtmuseum von Žamberk. Hier befindet sich eine „satanische Bibel“ (Codex Gigas). Der Legende nach war ein Mönch der schwarzen Magie verdächtigt. Er wurde Ende des 12. / Anfang des 13. Jahrhunderts vor die Wahl gestellt, entweder lebendig eingemauert zu werden oder sein Wissen in nur einer Nacht in einem Buch niederzuschreiben. Letzteres konnte natürlich nur mit Hilfe des Teufels geschehen. Im 30-jährigen Krieg entführten die Schweden das Buch und haben es bis heute nicht wieder zurückgegeben. Immerhin fertigten sie Kopien der Seiten an, die hier zu einer originalgetreuen Kopie zusammengebunden wurden. Angeblich sind einige Seiten weiß auf schwarz gedruckt und bieten detaillierte Anleitungen zur Teufelsaustreibung. Gleich nebenan befindet sich eine kleine jüdische Trauerhalle und ein jüdischer Friedhof, der nach einer Schändung im Jahr 2006 wieder instandgesetzt wurde. Der Abend klang aus in einer ehemaligen sozialistischen Dorfdisko in Dolní Dobrouč, in der kürzlich ein Feinschmeckerlokal eröffnete.

Empfang der Reisegruppe Fröhlich durch Bürgermeister von Usti Hajek im Rathaus

Am Montagvormittag wurde die Delegation im Rathaus von Ústí nad Orlicí durch Bürgermeister Petr Hájek und seinen drei Stellvertretern empfangen. Dabei wurden auch künftige gemeinsame Aktivitäten besprochen. Auf dem Bahnhof von Česká Třebová war noch Zeit für einen kleinen Imbiss, bis die tschechische Bahn die Reisegruppe pünktlich wieder zurück zum Südkreuz brachte.